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Die Geschichte der Verdingkinder ist kein Tabu mehr! Die Betroffenen trauen sich und sagen: «Ja, mir ist das auch passiert.» Mein Fazit zum Abschluss der Wiedergutmachungsinitiative.
Am 30. Juni 2018 werden hunderte ehemaliger Heim- und Verdingkinder sowie Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen aus der ganzen Schweiz nach Mümliswil zu einem gemeinsamen Sommerfest – zum Abschluss der Wiedergutmachungsinitiative sowie zum Start des Projekts «Erzählbistro». Noch vor wenigen Monaten riefen wir in Alters- und Pflegeheimen und in den Medien die Opfer dazu auf, sich für einen Solidaritätsbeitrag zu melden. Viele Betroffene hatten mit ihrer Geschichte abschlossen und wollten mit dieser Zeit ihres Lebens nichts mehr zu tun haben.
Dass es jetzt zum grössten Treffen ehemaliger Heim- und Verdingkinder kommt, zeigt eindrücklich, was die Wiedergutmachungsinitiative ganz abgesehen von den Solidaritätsbeiträgen, die dieser Tage ausbezahlt werden, erreicht hat. Die Geschichte der Verdingkinder ist kein Tabu mehr! Die Betroffenen trauen sich und sagen: «Ja, mir ist das auch passiert.»
Unsere Kinder lernen heute in der Schule, was den Verdingkindern widerfahren ist. Das zeigt, dass sich alles verändert hat. Die fürsorgerischen Zwangsmassnahmen werden heute nicht mehr tabuisiert, im Gegenteil: sie werden als Teil der Schweizer Geschichte verstanden.
Viele haben diesen Erfolg ermöglicht: Die Opfer, die auf die Strasse sind und die Unterschriften gesammelt haben und der Geschichte ein Gesicht gegeben haben. Aber auch Politiker aus allen Parteien haben geholfen.
Unsere Volksinitiative wurde am Schluss von namhaften Exponenten der Wissenschaft sowie bedeutenden Schweizer Kulturschaffenden unterstützt. Als wir es geschafft hatten, die Kirchenvertreter und Bauernvertreter von unserem Anliegen zu überzeugen, Als diese merkten, dass eine Aufarbeitung möglich ist, ohne dass sie als Vertreter der «Täterseite» gebrandmarkt würden, war eine Lösung absehbar. Da spürte ich, dass sich etwas verändert.
Noch vor 5 Jahren hatte ich erlebt, wie sich die Politik gegen jede ernsthafte Form der historischen Aufarbeitung wehrte und eine finanzielle Wiedergutmachung weit von sich wies. Da ich habe mir geschworen, dass ich dies ändern möchte, weil das Thema zu wichtig ist – für die Betroffenen und natürlich für die Schweiz, weil man nur in die Zukunft bauen kann, wenn man die Vergangenheit klärt. Das ist geschehen.
Immer wieder hatte ich in Gesprächen über die Wiedergutmachungsinitiative zu hören bekommen: «Das ist längst verjährt» und «damals war das so rechtens, wir dürfen die Vergangenheit nicht mit der Brille von heute betrachten». Da habe ich immer wieder gesagt, nein, das war auch damals ein Verbrechen. Schon damals war Missbrauch ein Missbrauch und eine Vergewaltigung eine Vergewaltigung. Und: sehr wohl müssen wir die Vergangenheit angehen, wie sonst kann eine Gesellschaft sich weiterentwickeln.
Dabei gibt es einen Unterschied zwischen ungeschehen machen und wiedergutmachen. Ungeschehen machen kann man das Leid, das diese Menschen erlitten haben, nicht. Eine verpfuschte Kindheit, ein Missbrauch oder eine Misshandlung verschwindet nicht aus dem Gedächtnis wegen einer Anerkennung oder einer finanziellen Leistung. Aber: Staat und Gesellschaft können begangenes Unrecht wiedergutmachen, was sie im Fall der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen gemacht haben – ein Stück Gerechtigkeit wurde wiederhergestellt.
Über 9’000 Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen haben ein Gesuch für eine Solidaritätszahlung eingereicht. Das hätte zu Beginn niemand für möglich gehalten. All diese Betroffenen werden eine offizielle Anerkennung für das erlittene Unrecht erhalten. Auch die wissenschaftliche Aufarbeitung der Geschichte hat begonnen – damit haben wir die Ziele unserer Wiedergutmachungsinitiative erreicht.
Die Unterstützung für unser Anliegen war auch in der Bevölkerung riesig. Weil fast jeder und jede einen Bezug zu dieser Geschichte hat. Dies ist mir in diesem Moment bewusst geworden, als im Parlament plötzlich Nationalrätinnen und Nationalräte von ihrer Familiengeschichte erzählten, von einem verdingten Vater oder einer verdingten Grossmutter.
Dennoch: Aus heutiger Sicht würde ich die Initiative noch früher starten. Zu viele Opfer sind in der Zwischenzeit verstorben. Das schmerzt mich.
Mein Engagement für die ehemaligen Heim- und Verdingkinder sowie Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen ist mit dem Ende der Wiedergutmachungsinitiative aber nicht abgeschlossen. Nein, ich habe mich vor der Wiedergutmachungsinitiative für Opfer eingesetzt und ich werde das auch nach der Initiative tun. Konkret bin ich an einem Nachfolgeprojekt namens «Erzählbistro» beteiligt, das die persönliche Geschichte der Betroffenen ins Zentrum setzt. Der Startschuss zu diesem Projekt fällt am 30. Juni am Sommerfest in Mümliswil – im Beisein von über 600 Opfern dieses dunklen Kapitels Schweizer Geschichte.